G.W. Leibniz - Freude am Glück des anderen (alle)
Lieben heißt, Freude finden an den Vollkommenheiten oder Vorteilen und vor allem am Glück des anderen.
Das ist dasselbe wie man die schönen Dinge und vor allem die intelligenten Substanzen liebt, deren Glück uns Freude bereitet und denen wir infolgedessen Gutes wünschen, da wir nichts als nur Vergnügen fänden, sie glücklich zu sehen.
Über alle Dinge lieben, das heißt: solche Freude an den Vollkommenheiten und am Glück eines jeden zu finden, dass alle übrigen Freuden nichts dagegen zählen, vorausgesetzt, man hat jene [Freude wirklich].
Daraus folgt, dass gemäß der Vernunft derjenige, den man über alle Dinge lieben soll, so große Vollkommenheiten besitzen muss, dass die Freude, die sie verursachen, alle anderen Freuden auszulöschen vermag.
Das aber kann nur Gott zugesprochen werden.
Demzufolge ist es unmöglich, dass man Gott über alle Dinge liebt und diese Liebe losgelöst von allem unseren Wohl ist, denn die Freude, die wir an der Betrachtung seiner [= Gottes] Vollkommenheiten finden, gehört zum Wesen der Liebe.
Aber angenommen, dass die Seligkeit Freuden einschließt, die nicht zum Wesen dieser Liebe gehören, dann könnte man Gott über alle Dinge lieben ohne von diesen fremden Freuden berührt zu werden.
Deshalb kann man die göttliche Liebe haben, wenn man glaubte, aller sonstigen Freude außer eben derjenigen, die aus jener Liebe fließt, ledig sein zu müssen, und – was noch mehr ist – wenn man glaubte unter großen Schmerzen leiden zu müssen.
Aber anzunehmen, man liebe unablässig Gott über alle Dinge und man sei dennoch ewiger Pein ausgesetzt, hieße, etwas anzunehmen, das niemals eintreten wird.
Falls jemand so etwas als wahr annähme, befände er sich im Irrtum; und er erschiene als einer, der die Güte Gottes unzureichend kennt und ihn infolgedessen noch nicht genug liebt.
Die Heiligen, welche zweifellos auf der Ansicht bestehen, dass Gott denjenigen nicht verdammen wird, der ihn über alle Dinge liebt, und die, nichtsdestotrotz, gesagt haben, dass sie Gott auch dann lieben würden, wenn sie der Verdammnis anheimfallen sollten,
wollten durch diese falsche Annahme zu verstehen geben, dass die Beweggründe der Liebe des Wohlwollens [der Gutwilligkeit, bienveuillance] oder die Tugend der barmherzigen Liebe [charité] und die Beweggründe der Tugend der Hoffnung
oder der Liebe der Begehrlichkeit und Habsucht [cupidité] (die eigentlich nicht den Namen „Liebe“ verdient) völlig voneinander unterschieden sind.
Die Theologen haben zu allen Zeiten die gutwillige Liebe des Wohlwollens von derjenigen der Begierde [concupiscence] unterschieden.
Mit den Schulbegriffen nannten sie erstere die uneigennützige [desinteressée], die ausschließlich genau in der Freude besteht, die aus der Betrachtung der Vollkommenheit und des Wohlergehens des geliebten Objekts erwächst, ohne auf einen Vorteil oder Gewinn zu schielen, der für uns daraus gezogen werden könnte.
Die andere [=die begierliche Liebe] ist „interessiert“, aber auf unerlaubte Weise; sie besteht genau aus dem Schielen auf das eigene Glück, ohne das Glück und den Vorteil des anderen in den Blick zu nehmen. Sie beziehen die Liebe der zuerst genannten Art auf die Tugend der barmherzigen Liebe [charité] und die Liebe der anderen Art auf die Tugend der Hoffnung
*
Die Gerechtigkeit ist eine der Weisheit konforme Liebe.
Die Weisheit ist das Wissen um die Glückseligkeit.
Die Liebe ist ein universelles Wohlwollen.
Das Wohlwollen ist eine Verhaltensweise des Liebens.
Lieben heißt, Freude am Guten, Vollkommenen, am Glück des anderen [des Nächsten] zu finden.
G.W. Leibniz 1697
gesamter Thread:
- Zitate im Oktober - Freude ist... -
Devino M.,
03.10.2016, 17:58
- I.Kant: Regel, Zufall und Begebenheit - Devino M., 01.10.2016, 14:19
- G.W. Leibniz - Glückseligkeit - Vinaya El Michaela, 04.10.2016, 03:28
- G.W. Leibniz - Freude am Glück des anderen - Vinaya El Michaela, 05.10.2016, 22:15
- Gurdjieff: Für alles gibt es seine Zeit - Devino M., 14.10.2016, 01:27
- Seneca: Das Leben zu leben - Devino M., 15.10.2016, 12:48
- M.Gandhi: Menschenwürde - Devino M., 23.10.2016, 19:24
- M.Luther: Sich selbst hinter allem wissen - Devino M., 24.10.2016, 09:09
- Aristoteles: Sicherheit und Freiheit - Devino M., 25.10.2016, 01:57
- M.Aurel: Gekommen um zu Leben -
Devino M.,
27.10.2016, 02:02
- M.Aurel: Moral von der Geschicht -
Devino M.,
29.10.2016, 12:11
- M.Aurel: Unerwartetes Geschenk - Devino M., 30.10.2016, 12:47
- M.Aurel: Moral von der Geschicht -
Devino M.,
29.10.2016, 12:11