Der Geschmack des Lebens - Seneca (alle)

Devino M., Sonntag, 28. April 2019, 20:21 (vor 1825 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 77

Du Unglücklicher, du bist Sklave von Menschen, Sklave von Dingen, Sklave des Lebens; denn das Leben ist, wenn die rechte Einstellung zum Sterben fehlt, nichts als Sklaverei. Oder hast du noch etwas, das du dir erhoffst? Gerade die Genüsse, die dich zögern lassen und zurückhalten, hast du ausgekostet; keiner ist dir neu, keiner ist dir nicht bereits widerwärtig infolge deiner Übersättigung. Du weißt, wie Wein schmeckt und wie Met. Es ist völlig belanglos, ob 100 oder 1000 Amphoren durch deine Blase laufen. Du bist ein Filter. Den Geschmack der Auster, den Geschmack der Meerbarbe kennst du bestens: Nichts hat deine Genusssucht ausgelassen und dir für künftige Jahre aufgehoben. Und doch ist es gerade dies, wovon du dich so ungern losreißt. Gibt es noch etwas anderes, dessen Verlust dich schmerzen könnte? Freunde? Verstehst du dich denn darauf, ein Freund zu sein?

Die Sonne? Die würdest du, falls du es könntest, auslöschen; denn hast du je etwas getan, was ihres Lichtes würdig wäre?

"Aber ich", sagt einer, "ich will leben, weil ich viel Ehrenwertes tue; nur widerwillig gebe ich die Pflichten des Lebens auf, denen ich so zuverlässig und fleißig nachkomme." Wie denn? Du weißt nicht, dass zu den Pflichten des Lebens auch das Sterben gehört? Du entziehst dich keiner Pflicht. Es ist keine bestimmte Zahl festgelegt, die du erfüllen musst.

Wie im Theater, so im Leben: Es kommt nicht darauf an, wie lange, sondern wie gut die Aufführung ist. Es ist völlig unwichtig, wann man aufhört. Wo immer du willst, da mach Schluss. Nur setze ein gutes Ende.
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Wenn man bedenkt, dass mit höchstens etwa 100 Jahren ein Leben auf Erden vorbei ist, was kann da ein einzelnes Leben schon nennenswertes verrichten? Anderwärts, wo man vielleicht 1.000-4.000 Jahre alt werden mag, ist man mit 100 Jahren womöglich gerade erst erwachsen und hat das lebensnotwendige erlernt. Vergleichsweise dazu, kann man auf Erden also in der Zeit gerade mal das Sterben erlernen.

Für viele Dinge bleibt also auf Erden keine Zeit. Es bleibt eher nur die Zeit, um das Sterben zu lernen, anstatt zu lernen, wie man wirklich lebt. Kann man es daher vielen verübeln, dass sie nur das leben und so leben, was sie es erlernt haben?

Die schönsten Dinge gehen am schnellsten vorüber, sobald man einen Geschmack an ihnen entwickelt hat. Verhält sich mit dem Leben nicht viel anders. Erfüllend ist das Leben dann, wenn man sein Inneres mit dem Äußeren halbwegs in Einklang bringt. Denn die Fülle des äußeren Lebens, bildet das, was in uns steckt.


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