Von der kürze des Lebens - Seneca (alle)

Devino M., Samstag, 20. April 2019, 11:22 (vor 1831 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Von der kürze des Lebens [De brevitate vitae] 1

Die meisten Menschen, mein Paulinus, beklagen sich über die Missgunst der Natur, weil wir nur für eine kurze Zeitspanne auf die Welt kommen, weil die uns gegebene Frist so rasch, so eilig verfliegt, dass das Leben die Menschen, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, bereits verlässt, während sie sich noch darauf vorbereiten. Und über dies, wie man meint, allgemeine Unglück jammerte nicht nur die breite Masse und das unwissende Volk. Diese Stimmung rief auch die Klagen berühmter Männer hervor. Daher erklärt sich auch der Ausruf [des Hippokrates,] des größten aller Ärzte: "Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst."

Aber wir haben keine kurze Zeitspanne, sondern viel davon vergeudet. Das Leben ist lang genug und zur Vollendung der bedeutendsten Taten reichlich bemessen, falls es nur insgesamt gut verwendet würde. Doch sobald es in Genusssucht und Nachlässigkeit zerfließt, sobald es für nichts Gutes eingesetzt wird, merken wir erst unter dem Zwang der letzten Notwendigkeit - vorher haben wir nicht erkannt, dass es dahinging -, es ist endgültig vergangen.
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Viele die Bedeutendes geleistet haben, hatten dies in nur der halben Zeit vollbracht, die der üblichen Lebenszeit entspricht - und sind dann auch schon wieder gegangen. Daher ist wohl genügend Zeit da, wenn sie für das genutzt wird, wofür sie vorgesehen ist. Wenn man sie dafür nicht einsetzt, dann wird nie genug Zeit da sein.

Wenn man sich also irgendwo in zeitliche Bedingungen begibt, dann hat man i.d.R. sich etwas vorgenommen. Und i.d.R. hat man auch die Zeit so da, wie sie dafür benötigt wird. Vieles sind daher mehr nur Ausreden, dass man nicht gemäß seinem Vorhaben verfahren ist. Und würde man also weiter nur so verfahren, dann würde mehr Zeit daran auch nichts ändern.

Daher muss man sich bewusst die Zeit nehmen, für das, worauf es ankommt. Wenn man also daran geht, die Zeit nur mit irgendetwas totzuschlagen, kann man sich schon einmal fragen, ob es dem Vorhaben im größeren Sinne entspricht, wofür die Zeit bemessen wurde. Die Zeit ist also deswegen bemessen, damit so weniger Unnützes zusammenkommen kann.


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