Hoffnung - Seneca (alle)

Devino M., Freitag, 19. April 2019, 19:38 (vor 1831 Tagen)

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 12

Lasst uns das Alter mit Liebe umfassen! Es ist voller Genüsse, wenn man es zu nutzen weiß. Am besten schmecken die Früchte, wenn sie zu Neige gehen; der Charme der Kindheit ist an ihrem Ende am größten; die Zechenden genießen besonders den letzten Trunk, jenen, der sie versinken lässt und ihren Rausch vollkommen macht; jede Lust spart ihren schönsten Reiz auf bis zum Schluss. Am reizvollsten ist das Lebensalter, das sich schon neigt, doch noch nicht dem Ende entgegenstürzt, und auch jenes, das schon an der Schwelle des Todes steht, hat, wie ich meine, seine eigenen Freuden. Oder gerade das tritt an die Stelle der Genüsse, dass man auf sie alle verzichten kann. Wie wunderbar ist es, seine Leidenschaften gebändigt und hinter sich gelassen zu haben! "Es ist sehr unerfreulich", sagst du, "den Tod vor Augen zu haben." Erstens muss ein Greis genauso mit ihm rechnen wie ein junger Mann (wir werden ja nicht nach Altersklassen abberufen); und zweitens ist niemand so alt, dass es unverschämt wäre, auf noch einen Tag zu hoffen.

Gewährt uns die Gottheit noch den morgigen Tag, wollen wir ihn in Freuden annehmen. Der ist wahrhaftig glücklich und sorgenfrei Herr seiner selbst, der das Morgen ohne Bangen erwartet. Wer [abends] sagen kann: "Ich habe gelebt", der erhebt sich täglich zu seinem Gewinn.
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Es braucht Hoffnung, wenn man ohne Bangen den nächsten Tag erwarten möchte. Manchmal mögen es irgendwelche Dinge sein, die einem als Vorfreude gewisse Hoffnung bringen. Allerdings ist jeweiliges vorbei, dann kann die darauf gesetzte Hoffnung auch mal ins Gegenteil umschlagen, so dass man vielleicht etwas wehleidig dann wieder zurückschaut.

Die andere Hoffnung liegt in dem, dass man sich allgemein nützlich macht. Denn ist man nur unnütze (z.B. in dem man sich nur den genussvollen Dingen verschreibt), dann geht auch die Hoffnung verloren dadurch. So dass alles irgendwo seinen Sinn verliert und man sich nur noch fragt, wozu sollte man sich für dieses oder jenes überhaupt noch abmühen? Dabei liegt es nicht an diesem oder jenem, sondern darin, dass oft erst mit dem Unnützen man dahin gekommen ist, dass man die grundsätzliche Hoffnung nicht mehr vor sich hat. Sie ist mit den genussvollen Dingen einfach aufgeraucht worden.

Denn man kann mit den selben Dingen beschäftigt sein, und eine Erfüllung darin finden, oder auch nicht. Man kann mit den selben Dingen beschäftigt sein, und sie für sinnvoll erachten, oder sie nur als irgend eine Art von Notwendigkeit nur abwickeln. Und sich dann womöglich sagen, "endlich vorbei..". Mit entsprechender Hoffnung, kann man in allem einen Gewinn und Sinn finden. Ohne diese können selbst Heilige Dinge, als kummervoll betrachtet werden, obwohl sie es nicht sind.

Vieles kommt erst mit Verzug. D.h. während man vielleicht mit genussvollem zubringt, liegt der Genuss oft gar nicht in dem, was gerade getan wird, sondern er resultiert aus dem Nützlichen was man zuvor mal tat. Und während man etwas Nützliches tut, mögen erst die Nachwirkungen dessen da sein, was als Folge der Früchte des Genusses einem zukommt, so dass man im Nützlichen kaum einen Sinn erkennt, und es einem nur komisch alles erscheint.

Die Hoffnung stirbt zuletzt? Nein, die Hoffnung stirbt zuerst! Soweit Hoffnung da ist, wird man immer irgendwo mit Gewinn nach vorne sehen und einen Sinn in nahezu allem finden können. So auch zwischen den Übergängen zu einer anderen Schwelle. Kündet sich der Tod an, oder das Ende der Kindheit u.dgl., dann liegt die Hoffnung ja nicht in dem was vorbei ist, sondern dass man etwas anderer erwartet, sei es nur unbewusst. Und doch ist da irgend eine Hoffnung, die man irgendwo vor sich erblickt.


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