Der Ruf des Todes - Seneca (alle)

Devino M., Sonntag, 28. April 2019, 00:11 (vor 1818 Tagen)

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 91

Der Tod hat einen schlechten Ruf. Niemand von denen, die gegen ihn Klage erheben, hat ihn erfahren. Aber es ist doch leichtfertig, etwas zu verurteilen, was man nicht kennt. Die hingegen weißt du: für wie viele er nützlich ist, wie viele er von Qualen befreit, von Not, Klagen, Martern und Lebensekel.
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Hinsichtlich des Todes wird schnell an all die schönen Dinge gedacht, die man hätte ja machen können, wenn der Tod nicht wäre. Doch wenig wird der schlechten Dinge gedacht, was durch den Tod alles wem erspart bleiben mag.

So kann man wohl durchaus sagen, dass vielleicht manch Gutes sich nicht mehr ereignen kann. Doch mit größerer Gewissheit kann man sagen, dass vieles Schlechte sich nicht mehr ereignen kann. Denn so lange körperlicher Verfall eine Folge ist, ist größerer Leid gewiss, doch die guten Dinge, die sind nicht ebenso gewiss. Denn man braucht nicht unbedingt viel des Lebens, um sich das Gute zu Erfüllen, was man unbedingt wollte.

Es ist wohl besser mit Würde abzutreten, als diese selbst täglich zu Grabe zu tragen.

An jedem Ort - Seneca

Devino M., Sonntag, 28. April 2019, 00:28 (vor 1818 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 49

Sag mir, bevor ich schlafen gehe:
"Es kann sein, dass du nicht mehr aufwachst."
Sag mir, wenn ich wieder aufgestanden bin:
"Es kann sein, dass du nicht mehr zum Schlafen kommst."
Sag mir, wenn ich das Haus verlasse:
"Es kann sein, dass du nicht zurückkommst."
Sag mir, wenn ich wiederkehre:
"Es kann sein, dass du nicht mehr ausgehst."

Du bist im Irrtum, wenn du denkst, bloß bei einer Seereise sei das Leben nur durch eine dünne Wand vom Tod getrennt: An jedem Ort ist der Abstand gleich gering. Nicht überall zeigt sich der Tod so nahe, aber überall ist er genauso nahe.
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Vor dem Tod ist wohl niemand sicher. Nur im Tod selbst ist man sicher vor diesem. Und selbst der erleuchtete Meister, der den Tod überwand, überwand diesen dadurch, dass er alles bereitwillig sterben ließ, was sterben muss, und so in der Weise dem Tod bereits übergab. Noch bevor Tod danach verlangte.

An jedem Ort ist man nicht mehr oder weniger sicher, wenn die bestimmte Zeit gekommen ist. Je stärker man im Bunde mit der eignen Seele ist, umso eher wird man die Zeit kommen sehen und darauf vorbereitet sein. Immerhin ist es ja eine Entscheidung der Seele, wann sie welches Gewandt ablegt.

Uns allen ist also eine Zeit zu gehen bestimmt. Mögen wir alle also in freudiger Erwartung dessen sein, statt in kummervoller Sorge. Sobald die Zeit bestimmt ist, um an einen anderen Ort zu gehen.

Der Geschmack des Lebens - Seneca

Devino M., Sonntag, 28. April 2019, 20:21 (vor 1817 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 77

Du Unglücklicher, du bist Sklave von Menschen, Sklave von Dingen, Sklave des Lebens; denn das Leben ist, wenn die rechte Einstellung zum Sterben fehlt, nichts als Sklaverei. Oder hast du noch etwas, das du dir erhoffst? Gerade die Genüsse, die dich zögern lassen und zurückhalten, hast du ausgekostet; keiner ist dir neu, keiner ist dir nicht bereits widerwärtig infolge deiner Übersättigung. Du weißt, wie Wein schmeckt und wie Met. Es ist völlig belanglos, ob 100 oder 1000 Amphoren durch deine Blase laufen. Du bist ein Filter. Den Geschmack der Auster, den Geschmack der Meerbarbe kennst du bestens: Nichts hat deine Genusssucht ausgelassen und dir für künftige Jahre aufgehoben. Und doch ist es gerade dies, wovon du dich so ungern losreißt. Gibt es noch etwas anderes, dessen Verlust dich schmerzen könnte? Freunde? Verstehst du dich denn darauf, ein Freund zu sein?

Die Sonne? Die würdest du, falls du es könntest, auslöschen; denn hast du je etwas getan, was ihres Lichtes würdig wäre?

"Aber ich", sagt einer, "ich will leben, weil ich viel Ehrenwertes tue; nur widerwillig gebe ich die Pflichten des Lebens auf, denen ich so zuverlässig und fleißig nachkomme." Wie denn? Du weißt nicht, dass zu den Pflichten des Lebens auch das Sterben gehört? Du entziehst dich keiner Pflicht. Es ist keine bestimmte Zahl festgelegt, die du erfüllen musst.

Wie im Theater, so im Leben: Es kommt nicht darauf an, wie lange, sondern wie gut die Aufführung ist. Es ist völlig unwichtig, wann man aufhört. Wo immer du willst, da mach Schluss. Nur setze ein gutes Ende.
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Wenn man bedenkt, dass mit höchstens etwa 100 Jahren ein Leben auf Erden vorbei ist, was kann da ein einzelnes Leben schon nennenswertes verrichten? Anderwärts, wo man vielleicht 1.000-4.000 Jahre alt werden mag, ist man mit 100 Jahren womöglich gerade erst erwachsen und hat das lebensnotwendige erlernt. Vergleichsweise dazu, kann man auf Erden also in der Zeit gerade mal das Sterben erlernen.

Für viele Dinge bleibt also auf Erden keine Zeit. Es bleibt eher nur die Zeit, um das Sterben zu lernen, anstatt zu lernen, wie man wirklich lebt. Kann man es daher vielen verübeln, dass sie nur das leben und so leben, was sie es erlernt haben?

Die schönsten Dinge gehen am schnellsten vorüber, sobald man einen Geschmack an ihnen entwickelt hat. Verhält sich mit dem Leben nicht viel anders. Erfüllend ist das Leben dann, wenn man sein Inneres mit dem Äußeren halbwegs in Einklang bringt. Denn die Fülle des äußeren Lebens, bildet das, was in uns steckt.

Die Kunst zu Leben - Seneca

Devino M., Sonntag, 28. April 2019, 20:34 (vor 1817 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 61

Wir müssen uns eher auf den Tod als auf das Leben vorbereiten. Das Dasein ist mit allem reichlich versehen, doch uns verlangt es nach weiteren Möglichkeiten zum Leben. Wir haben den Eindruck, als fehle uns etwas, und werden immer diesen Eindruck haben. Doch für ein ausreichend langes Leben sorgen weder Jahre noch Tage, sondern die innere Einstellung. Ich habe, liebster Lucius, genug gelebt; satt und zufrieden sehe ich dem Tod entgegen.
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Man kann also ein reichhaltiges Leben führen, mit allem was dazu gehört, und doch vielleicht nur ganz oberflächlich. Nichts davon bleibt am Ende womöglich in uns, wenn wir es nur vergehen lassen. Erst unser Innerstes trägt das erforderliche Bewusstsein dazu bei, um alles irgendwo wertschätzen zu können. Letztlich damit dieses auch in uns zu beleben, so dass es uns also im Speicher seelischer Erinnerung verbleibt. Damit es nicht nur mit den äußeren Dingen an und für sich nur vergeht.

Was zählen also mehr oder weniger Jahre, wenn man sie nicht bewusst (er)lebt?

Die Kunst zu Leben ist wohl durchaus die, so zu leben, als könnte jeder Tag der letzte sein. Mit fast allem anderen macht man sich nämlich nur etwas vor. Man betört sich damit, dass alles nur so weitergeht, wie man es bisher gekannt hat. Und setzt voraus, dass alles so weiter geht. Um dann mit Bedauern festzustellen, wenn sich plötzlich etwas verändert hat, womit man so nicht gerechnet hatte.

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