Hoffnung - Seneca (alle)

Devino M., Freitag, 19. April 2019, 19:38 (vor 1825 Tagen)

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 12

Lasst uns das Alter mit Liebe umfassen! Es ist voller Genüsse, wenn man es zu nutzen weiß. Am besten schmecken die Früchte, wenn sie zu Neige gehen; der Charme der Kindheit ist an ihrem Ende am größten; die Zechenden genießen besonders den letzten Trunk, jenen, der sie versinken lässt und ihren Rausch vollkommen macht; jede Lust spart ihren schönsten Reiz auf bis zum Schluss. Am reizvollsten ist das Lebensalter, das sich schon neigt, doch noch nicht dem Ende entgegenstürzt, und auch jenes, das schon an der Schwelle des Todes steht, hat, wie ich meine, seine eigenen Freuden. Oder gerade das tritt an die Stelle der Genüsse, dass man auf sie alle verzichten kann. Wie wunderbar ist es, seine Leidenschaften gebändigt und hinter sich gelassen zu haben! "Es ist sehr unerfreulich", sagst du, "den Tod vor Augen zu haben." Erstens muss ein Greis genauso mit ihm rechnen wie ein junger Mann (wir werden ja nicht nach Altersklassen abberufen); und zweitens ist niemand so alt, dass es unverschämt wäre, auf noch einen Tag zu hoffen.

Gewährt uns die Gottheit noch den morgigen Tag, wollen wir ihn in Freuden annehmen. Der ist wahrhaftig glücklich und sorgenfrei Herr seiner selbst, der das Morgen ohne Bangen erwartet. Wer [abends] sagen kann: "Ich habe gelebt", der erhebt sich täglich zu seinem Gewinn.
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Es braucht Hoffnung, wenn man ohne Bangen den nächsten Tag erwarten möchte. Manchmal mögen es irgendwelche Dinge sein, die einem als Vorfreude gewisse Hoffnung bringen. Allerdings ist jeweiliges vorbei, dann kann die darauf gesetzte Hoffnung auch mal ins Gegenteil umschlagen, so dass man vielleicht etwas wehleidig dann wieder zurückschaut.

Die andere Hoffnung liegt in dem, dass man sich allgemein nützlich macht. Denn ist man nur unnütze (z.B. in dem man sich nur den genussvollen Dingen verschreibt), dann geht auch die Hoffnung verloren dadurch. So dass alles irgendwo seinen Sinn verliert und man sich nur noch fragt, wozu sollte man sich für dieses oder jenes überhaupt noch abmühen? Dabei liegt es nicht an diesem oder jenem, sondern darin, dass oft erst mit dem Unnützen man dahin gekommen ist, dass man die grundsätzliche Hoffnung nicht mehr vor sich hat. Sie ist mit den genussvollen Dingen einfach aufgeraucht worden.

Denn man kann mit den selben Dingen beschäftigt sein, und eine Erfüllung darin finden, oder auch nicht. Man kann mit den selben Dingen beschäftigt sein, und sie für sinnvoll erachten, oder sie nur als irgend eine Art von Notwendigkeit nur abwickeln. Und sich dann womöglich sagen, "endlich vorbei..". Mit entsprechender Hoffnung, kann man in allem einen Gewinn und Sinn finden. Ohne diese können selbst Heilige Dinge, als kummervoll betrachtet werden, obwohl sie es nicht sind.

Vieles kommt erst mit Verzug. D.h. während man vielleicht mit genussvollem zubringt, liegt der Genuss oft gar nicht in dem, was gerade getan wird, sondern er resultiert aus dem Nützlichen was man zuvor mal tat. Und während man etwas Nützliches tut, mögen erst die Nachwirkungen dessen da sein, was als Folge der Früchte des Genusses einem zukommt, so dass man im Nützlichen kaum einen Sinn erkennt, und es einem nur komisch alles erscheint.

Die Hoffnung stirbt zuletzt? Nein, die Hoffnung stirbt zuerst! Soweit Hoffnung da ist, wird man immer irgendwo mit Gewinn nach vorne sehen und einen Sinn in nahezu allem finden können. So auch zwischen den Übergängen zu einer anderen Schwelle. Kündet sich der Tod an, oder das Ende der Kindheit u.dgl., dann liegt die Hoffnung ja nicht in dem was vorbei ist, sondern dass man etwas anderer erwartet, sei es nur unbewusst. Und doch ist da irgend eine Hoffnung, die man irgendwo vor sich erblickt.

Von der kürze des Lebens - Seneca

Devino M., Samstag, 20. April 2019, 11:22 (vor 1825 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Von der kürze des Lebens [De brevitate vitae] 1

Die meisten Menschen, mein Paulinus, beklagen sich über die Missgunst der Natur, weil wir nur für eine kurze Zeitspanne auf die Welt kommen, weil die uns gegebene Frist so rasch, so eilig verfliegt, dass das Leben die Menschen, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, bereits verlässt, während sie sich noch darauf vorbereiten. Und über dies, wie man meint, allgemeine Unglück jammerte nicht nur die breite Masse und das unwissende Volk. Diese Stimmung rief auch die Klagen berühmter Männer hervor. Daher erklärt sich auch der Ausruf [des Hippokrates,] des größten aller Ärzte: "Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst."

Aber wir haben keine kurze Zeitspanne, sondern viel davon vergeudet. Das Leben ist lang genug und zur Vollendung der bedeutendsten Taten reichlich bemessen, falls es nur insgesamt gut verwendet würde. Doch sobald es in Genusssucht und Nachlässigkeit zerfließt, sobald es für nichts Gutes eingesetzt wird, merken wir erst unter dem Zwang der letzten Notwendigkeit - vorher haben wir nicht erkannt, dass es dahinging -, es ist endgültig vergangen.
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Viele die Bedeutendes geleistet haben, hatten dies in nur der halben Zeit vollbracht, die der üblichen Lebenszeit entspricht - und sind dann auch schon wieder gegangen. Daher ist wohl genügend Zeit da, wenn sie für das genutzt wird, wofür sie vorgesehen ist. Wenn man sie dafür nicht einsetzt, dann wird nie genug Zeit da sein.

Wenn man sich also irgendwo in zeitliche Bedingungen begibt, dann hat man i.d.R. sich etwas vorgenommen. Und i.d.R. hat man auch die Zeit so da, wie sie dafür benötigt wird. Vieles sind daher mehr nur Ausreden, dass man nicht gemäß seinem Vorhaben verfahren ist. Und würde man also weiter nur so verfahren, dann würde mehr Zeit daran auch nichts ändern.

Daher muss man sich bewusst die Zeit nehmen, für das, worauf es ankommt. Wenn man also daran geht, die Zeit nur mit irgendetwas totzuschlagen, kann man sich schon einmal fragen, ob es dem Vorhaben im größeren Sinne entspricht, wofür die Zeit bemessen wurde. Die Zeit ist also deswegen bemessen, damit so weniger Unnützes zusammenkommen kann.

Entlasse dich selbst in die Freiheit - Seneca

Devino M., Sonntag, 21. April 2019, 16:16 (vor 1823 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 1

Mache es so, mein Lucilius: Entlasse dich selbst in die Freiheit und sammle und bewahre die Zeit, die dir bisher geraubt oder heimlich gestohlen wurde oder einfach so entglitt. Sei überzeugt, es ist schon so, wie ich schreibe: Manche Zeiten werden uns entrissen, andere entzogen und wieder andere verrinnen. Doch am schimpflichsten ist der Verlust, der durch Nachlässigkeit verursacht wird. Und wenn du einmal genauer hinschaust: Ein großer Teil des Lebens entgleitet den Menschen, indem sie Verwerfliches tun, der größte, indem sie gar nichts tun, und das ganze Leben, indem sie etwas tun, was zu ihrer Person keinen Bezug hat. Wen kannst du mir zeigen, der in der Zeit einen Wert sieht, der den einzelnen Tag zu schätzen weiß, der begreift, dass er täglich stirbt? Darin nämlich täuschen wir uns, dass wir den Tod nur vor uns sehen: Ein großer Teil von ihm ist schon Vergangenheit. Alle Lebenszeit, die hinter uns liegt, gehört dem Tod.
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Die größte Nachlässigkeit treibt ein jeder wider sich selbst. Auf alles was als außerhalb kommend gilt, wird so geachtet, als wäre es schnell verschwendete Zeit, sofern es einem nicht sogleich zugute gerechnet werden kann. Doch was man selber an Lebenszeit nur so vergeudet, darauf achtet nahezu keiner. Denn es wird als Gewinn angesehen, sofern man im eigenen Interesse handelt. Dabei ist das was man schon hat, selten ein Gewinn.

Bis zu einem gewissen Grad wird die eigne Seele zwar mit dem Subjektiven Eindruck beisteuern, wodurch einem aufgezeigt ist, was einem mehr oder was weniger entspricht. Allerdings, bei dem was einem als gewöhnlich erscheint, dem begegnet man meist auch mit der selben gewöhnlichen Gesinnung, ohne stärker auf Seelenimpulse noch zu achten.

Warum nur bedarf es oft irgendwelcher Schicksalsschläge, bevor jemand erwacht und plötzlich die Lebenszeit zu schätzen weiß? Die gesündere Einstellung dazu ist, anzunehmen, dass das Leben nicht einem allein gehört, und man es für alles mit-lebt, was dazu beitrug, dass man so leben darf, wie man kann. Dazu auch so, dass man alles tut, aus freien Stücken, nicht weil es zwingend erforderlich ist. Es mag zwar etwas erforderlich sein, dennoch behält man sich die Freiheit darin, dass man genauso auch sterben könnte oder ebenso in dem Moment tot sein könnte, ohne dieses also tun zu können.

Wer täglich seine Hand an sein Leben legt - Seneca

Devino M., Montag, 22. April 2019, 20:26 (vor 1822 Tagen) @ Devino M.

Seneca: Briefe an Lucius [Epistulae ad Lucilium] 101

Wir sollten uns innerlich so einstellen, als sei das Ende schon ganz nahe. Schieben wir nichts auf! Rechnen wir täglich mit dem Leben ab! Der größte Fehler des Lebens ist, dass es stets unvollendet bleibt, dass immer etwas hinausgezögert wird. Wer täglich letzte Hand an sein Leben legt, ist unabhängig von der Zeit. Doch aus der Zeitnot erwächst die Angst und das die Seele verzehrende Verlangen nach Zukunft.

Wenn ich jedoch alles, was ich mir schuldig war, geleistet habe, wenn ich, innerlich ganz gefestigt, weiß, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem Tag und einem Jahrhundert, dann schaue ich von oben auf alle noch kommenden Tage und Geschehnisse und denke mit heiterem Lächeln an den Strom der Zeit.

Darum, mein Lucilius, fang gleich an und betrachte jeden Tag als ein ganzes Leben! Wer sich so gerüstet hat, wer täglich ein erfülltes Dasein führt, der ist frei von Sorge. Den Menschen, die auf die Hoffnung hin leben, entgleitet die unmittelbare Gegenwart, Gier stellt sich ein und die erbärmlichste Furcht, die auch alles andere erbärmlich macht, die Furcht vor dem Tode.
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Den größeren Überblick hat ja doch die Seele. So wie sie die Erfahrung aus vielen Leben einbezieht, ist ein einziges Leben dagegen doch nur zu vergänglich. Und schließlich weiß die Seele auch weit mehr, was sie bereits alles hinter sich hat, und was wovon noch gebraucht wird.

Man mag sich zwar ein Ideal leicht vorstellen, doch selten wird man so das Leben aufbauen können, dass es diesem entspricht. Einfach weil alles nicht genauso liegt, dass es einem möglich sei, und weil oft viel mehr mit den zugehörigen Dingen verbunden ist, als dass sich alles nur ums entsprechende Ideal anordnen würde. Und dann bleibt immer noch die Frage, ob das Ideal eher irgendwelchen Mehrheitswünschen entspringt, oder ob es tatsächlich dem entspricht, was zur eigenen Seelennatur gehört. Letztlich wird es sich daran ausmachen, wie glücklich man damit ist.

Es ist vergleichbar damit, dass man sich bei vielen anderen dasjenige anschaut, was man auch für sich selber wünscht oder gut fände, jedoch oft die Kehrseite davon übersieht. Oder eben dasjenige, was erforderlich war, um dahin zu gelangen. Es bleibt alles nicht nur bei den erwünschten Effekten. Umgekehrt, erst wenn man die unerwünschten Seiten davon mit der Zeit abgewickelt hat, ergibt sich auch das Erwünschte daraus. Und dann dennoch die Frage, ist man damit dann auch wirklich glücklich?

Oder ist es doch alles schon so, wie es sollte? Wie es jetzt einem entspricht, und sonst wäre alles nicht so, wie es ist? Entscheidend ist doch schließlich das, woran man täglich Hand an seinem Leben legt. Das was man kaum registriert, einfach weil es irgendwie dazu gehört. Und vielleicht ist es alles nur eine Frage dessen, mit welcher Einstellung man woran geht...

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