Mitgefühl - Aus den Yoga-Sutras von Patanjali (alle)
23. Durch konzentriertes Meditieren über die drei Zustände des Empfindens - Mitgefühl, Güte und Leidenschaftslosigkeit - kann harmonisches Einssein mit anderen Menschen erreicht werden
Ein Vergleich dieses Satzes mit dem Lehrspruch 33 im ersten Buch wird zu seinem Verstehen beitragen. Die hier angeführte Harmonie geht jedoch einen Schritt weiter. Der Hinweis im ersten Buch soll den Aspiranten zu einem harmonischen, friedlichen Zusammenleben mit seiner ganzen Umgebung führen. In diesem Satz jedoch wird ihm nahegelegt, mit allen anderen Menschen wesenseins zu werden, und zwar durch Konzentration über die «drei Zustände der Empfindung». Diese sind:
a. Mitgefühl - im Gegensatz zum heftigen Gefühl, das selbstsüchtig und verlangend ist.
b. Güte - im Gegensatz zur Ichbezogenheit, die immer hart und mit sich selbst beschäftigt ist.
c. Leidenschaftslosigkeit - im Gegensatz zu sinnlicher Begierde und heftigem Verlangen.
Diese drei Zustände des Fühlens bringen den Menschen, der sie versteht und sich in sie hineinversetzt, mit der Seele aller Menschen in harmonische Verbindung.
Durch Mitgefühl ist er nicht mehr mit selbstsüchtigen Eigeninteressen beschäftigt, sondern er denkt sich in seinen Bruder hinein und leidet mit ihm; er kann seine eigene Schwingung so einstellen, dass sie auf die Bedrängnis seines Bruders reagiert; er ist fähig, an allem teilzunehmen, was im Herzen seines Bruders vor sich geht.
Das geschieht in der Weise, dass er seine eigene Schwingung auf eine höhere Frequenz bringt, so dass sie auf die Liebe-Natur seines eigenen Egos reagiert; durch dieses vereinende Prinzip stehen ihm überall alle Herzen offen.
Durch Güte kommt dieses mitfühlende Verstehen praktisch zum Ausdruck. Seine Handlungen sind nicht mehr ich-bezogen, sondern selbstlos und von dem tiefgefühlten Verlangen angetrieben, zu dienen und zu helfen. Dieser Gefühlszustand wird manchmal warmherzige Gesinnung genannt, und er ist bezeichnend für alle Diener der Menschheit. Damit verbunden sind werktätige Liebe, [288] selbstlose Absichten, weises Beurteilen und liebendes Handeln. Ein solcher Mensch ist frei von jedem Wunsch nach Belohnung und Anerkennung. H.P. Blavatsky hat das in der «Stimme der Stille» sehr schön mit folgenden Worten ausgedrückt:
«Lass das Ohr deiner Seele geöffnet sein für jeden Laut des Schmerzes, so wie die Lotosblüte ihren Kelch der Morgensonne öffnet.
Lass keine Träne des Schmerzes trocknen werden von der heissen Sonne, ehe du sie von des Weinenden Auges hinweggewischt hast.
Sondern lass jede menschliche Träne auf dein Herz fallen und dort verbleiben; wische sie nicht hinweg, ehe der Schmerz, der sie verursacht hat, beseitigt ist.
Diese Tränen, o gütiges Herz, sind die Ströme, welche die Felder der ewigen Liebe bewässern».
Durch Leidenschaftslosigkeit bleibt der strebende und dienende Mensch unberührt von den karmischen Wirkungen seines Handelns für andere Menschen. Es ist, wie wir wissen, unser eigenes Verlangen, das uns an die drei Welten und an andere Menschen bindet. «Gebundensein an» jemand, ist etwas anderes, als «vereint sein mit» jemand. Der eine Zustand ist voller Verlangen und verursacht Verpflichtungen und Auswirkungen; der andere ist frei vom Verlangen, er führt zum «Wesenseinswerden mit» dem Anderen und hat keine bindenden Folgen in den drei Welten. Leidenschaftslosigkeit ist mehr mental als die beiden anderen Zustände. Bei der Leidenschaftslosigkeit spielt die Qualität des niederen Denkvermögens eine Rolle; Güte ist das emotionelle Ergebnis von selbstlosem Mitgefühl und ist mit dem kamischen oder astralen Prinzip verbunden, während das Mitgefühl auch mit der physischen Ebene zu tun hat, denn es bringt die beiden anderen Zustände auf der physischen Ebene zum Ausdruck. Es ist die praktische Fähigkeit, sich mit einem anderen Menschen in allen drei Welten zu identifizieren.
Diese Fähigkeit harmonischen Einsseins ist die Folge davon, dass das Bewusstsein des egoischen Einsseins durch Meditation heruntergebracht wurde und in den drei Welten zur vollen Auswirkung kommt.