Die Bettlerin (alle)

Sladdi, Sonntag, 06. Mai 2012, 01:45 (vor 4645 Tagen) @ Sladdi
bearbeitet von Felix, Sonntag, 19. Juli 2020, 10:24

"Während eines Aufenthaltes in Paris kam der Dichter Rainer Maria Rilke täglich an einer Bettlerin vorbei. Sie saß stumm und scheinbar unbeteiligt an einer Gartenmauer. Hatte einer ein Geldstück in ihre Hand gelegt, ließ sie die Münze schnell in ihrer Manteltasche verschwinden. Ihrem Schicksal ergeben hockte sie an der Mauer, ein lebendiges Bild des Bettelns.

Eines Tages blieb Rilke mit seinem Freund bei der Bettlerin stehen. Und er legte in die Hand der alten Frau eine Rose. Da geschah etwas, was noch nie geschehen war: die Bettlerin sah auf, ergriff die Hand des Dichters, küsste sie. Dann ging sie mit der Rose davon.

Am nächsten Tag saß die Frau nicht auf ihrem gewohnten Platz. So blieb es eine ganze Woche. Verwundert fragte der Freund den Dichter nach der beängstigenden Wirkung der Gabe. Rilke sagte: "Man muss ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand." Auch eine andere Frage konnte der Freund nicht unterdrücken: Wovon denn die Bettlerin all die Tage gelebt habe, da niemand Geld in ihre Hand legte? Rilke antwortete: "Von der Rose."

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